Bitchboy Leseprobe

1400Kapitel 1: Milan

»So voll wie erwartet«, murmelte Milan kaum hörbar zu sich selbst, als er am Tag nach Weihnachtsfeiertagen durch das vollkommen überfüllte Stadtzentrum schlenderte. Ja, er gab es zu: Er war selbst schuld, wenn er auf so bescheuerte Ideen kam. Klar, so früh nach Weihnachten waren die Heerscharen der schlecht beschenkten Menschen unterwegs, um umzutauschen, was ihnen nicht gefiel oder was ihnen nicht passte. Milan kannte so etwas nicht, denn ihm schenkte normalerweise niemand etwas zu Weihnachten.
Nein, das war kein Grund für Mitleid; er war froh darüber. Es entband ihn von der Pflicht, etwas zurückzuschenken – worin er nicht gut war, denn woher sollte er denn wissen, was jemand anderes gebrauchen konnte – oder Freude zu heucheln, um niemanden enttäuscht zurückzulassen.
Überhaupt, der einzige Mensch, der ihm etwas hätte schenken können, war sein Bruder und dafür, dass der nicht auf solche Ideen kam, betete Milan jedes Jahr aufs Neue. Auf Geschenke, die Andrej vermutlich machen würde, konnte man verzichten.
Der Dezember war erstaunlich schneereich gewesen und obwohl die Straßenmeisterei sich bemühte, die Verkehrswege zu räumen, türmte sich zumindest an den Ecken das weiße Zeug noch ziemlich hoch. Von dem zarten Puderzuckerschnee der Adventszeit konnte keine Rede mehr sein. Das, was da den Boden bedeckte und auch noch immer vom Himmel fiel, war pappig und schwer und wurde von den Autos auf der Straße zu Matsch gefahren. Es gab der Stadt ein tristes Aussehen. Vielleicht lag es aber auch am fehlenden Sonnenschein, wer wusste das schon? So oder so war es kein Wetter, das Milans gedämpfte Laune aufheiterte.
Nachdenklich hielt Milan vor dem kleinen Antiquariat inne und blickte durch das Schaufenster hinein. Er ging oft daran vorbei. Betreten hatte er es noch nicht ein einziges Mal, obwohl ihm das, was sich hinter dem Glas präsentierte, ausgesprochen gut gefiel. Die alten Stücke waren wunderschön, hatten ihre Geschichte und ihren ganz eigenen Charakter. Sie bildeten einen starken Gegensatz zu der schnelllebigen Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts und erst recht zu jener, in der Milan sich für gewöhnlich bewegte und die er gern für einige Augenblicke hinter sich ließ und vergaß.
Er änderte seinen Fokus und sah plötzlich nicht mehr den glänzend polierten Sekretär oder das Vertico aus rötlichem Holz, sondern einen hochgewachsenen Mann in einem dunklen Trenchcoat mit Fellkragen. Den trug er schon seit Jahren, wusste nicht einmal mehr, woher er ihn hatte. Dunkles, vom Schnee gepudertes Haar hing ihm ins Gesicht, doch das ignorierte er. Er war es leid geworden, die widerborstigen Strähnen wieder und wieder aus dem Gesicht zu streichen. Sinnlos war es bei diesem Wetter sowieso, vor allem auch, weil seine Haare allgemein gern ein Eigenleben zu entwickeln schienen.
Milan wandte sich von seinem Spiegelbild ab und setzte seinen Stadtbummel fort. Er tat das gern, weil es ihm das Gefühl von Normalität gab. Von einem schnöden, langweiligen, wunderbar normalen Leben. Mit Häuschen und Garten in der Vorstadt. Vielleicht sogar mit einem Hund oder so.
Aber natürlich gab es diese Normalität nicht.
Für niemanden.
Und erst recht nicht für Milan.
Jeder hatte doch irgendeine Leiche im Keller, oder nicht? Die einen mehr, die anderen weniger, aber ganz sicher war niemand normal und bei den Menschen, die ihm entgegenkamen und die ihn nicht einmal wahrzunehmen schienen, fragte er sich, was ihr dunkles Geheimnis sein mochte.
Der scheinbar glückliche Familienvater hatte möglicherweise eine Geliebte, die Oma von nebenan trank vielleicht oder nahm sogar Drogen, die Hausfrau dort konnte kaufsüchtig sein oder bereute insgeheim, je Kinder bekommen zu haben. Und der Teenager, der auf der anderen Straßenseite an der Bushaltestellen herumlungerte und in einer abgewetzten Lederjacke vor Kälte zitternd an einer Zigarette oder an was auch immer zog, verkaufte Tag für Tag und Nacht für Nacht seinen Körper für Geld.
Milan seufzte, hielt auf den Fußgängerüberweg zu und wechselte die Straßenseite, als es grün wurde.
Aus seiner Richtung kommend konnte er bloß schulterlanges, hellblondes Haar und einen schlanken, fast etwas zu schlanken Körper erkennen, doch es genügte, um mit neunzigprozentiger Sicherheit zu sagen, wer da unter dem schneebedeckten Glasdach stand und gerade seine Kippe auf dem rostigen Mülleimer ausdrückte.
Der Junge schien ihn nicht einmal zu bemerken, als Milan direkt neben ihn trat, aber er wusste, dass das täuschte. Vermutlich hatte er ihn sogar schon vorher gesehen.
»Was tust du hier?«, wollte Milan wissen, war sich bewusst, dass seine Stimme dunkel und bedrohlich klang, aber auch davon ließ der Junge sich scheinbar nicht beeindrucken. Er zuckte bloß kaum merklich zusammen. Milan sah es nur, weil er ihn inzwischen etwas kannte.
»Ich darf hingehen, wohin ich will«, war die gleichgültig klingende Antwort, bevor der Angesprochene den Kopf drehte und Milan aus himmelblauen Augen ansah. Wie üblich reserviert und mit einer gewissen Distanz, die nicht wirklich greifbar war.
»Sicherlich darfst du das«, stimmte Milan ihm schulterzuckend zu, »aber das beantwortet meine Frage nicht.«
Wortlos wandte der Junge den Blick zurück auf die Straße, folgte einigen vorbeifahrenden Autos mit glasigen Augen. Er wirkte nicht, als würde Milan ihm allzu bald eine Antwort geben.
»Ist dir nicht kalt?«, versuchte Milan noch einmal, das Gespräch aufzunehmen, aber wieder erhielt er keine wirklich eindeutige Antwort darauf.
»Ich mag die Kälte«, murmelte der Junge, klang mit einem Mal so erschöpft, wie die dunklen Ringe unter seinen Augen es vermuten ließen, aber sah Milan noch immer nicht wieder an.
»Wann hast du zuletzt was gegessen? Komm, ich lad dich auf einen Kaffee ein.« Es sollte sein letzter Versuch sein, aber auch dieser wurde ohne den Hauch eines Zögerns abgeschmettert.
»Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich kann mir meinen Kaffee selbst kaufen, wenn ich einen möchte.«
»Schön, wie du willst.« Milan sagte es mehr zu sich selbst als zu diesem Sturkopf und drehte sich noch im gleichen Moment um. Sollte der doch weiterfrieren, wenn er sich davon irgendwas versprach.

*~*~*

Ruckartig schreckte Milan aus dem Schlaf auf, wusste im ersten Augenblick nicht, wo er war oder warum er von diesem Jungen geträumt hatte, an dessen Namen er sich nicht einmal erinnern konnte. Je mehr er sich anstrengte, an diesem Umstand etwas zu ändern, umso blasser wurde das Bild, bis selbst das Gesicht vor seinem inneren Auge unkenntlich wurde.
Milan rieb sich mit dem Zeigefinger und dem Daumen der rechten Hand die Augen, als könnte er das Bild so wieder zurückholen, aber auch das war vergebens.
Nur ein paar Lidschläge später hatte er den Traum fast vollständig vergessen, der nur noch als dunkle Ahnung irgendwo in seinem Unterbewusstsein herumgeisterte und Stück für Stück verschwand.
Also gab er die Bemühungen um seine Erinnerung auf und hievte sich von der Couch, die in seinem »Büro« stand. Milan setzte bei dieser Bezeichnung in Gedanken Gänsefüßchen. Ganz einfach deshalb, weil es mit einem normalen Büro nicht viel gemeinsam hatte, obwohl es ziemlich so aussah.
Ein Schreibtisch, darauf ein Computer, altersdunkle Regale, auf denen sich neben Büchern auch Ordner stapelten, ein Teppich in der Mitte des Raumes …
Alles wirkte normal.
Der gar nicht so unbedeutende Unterschied zu einem normalen Büro lag jedoch darin, dass Milans sich im Hell’s Heaven befand. Einem fragwürdigen Club in einer noch fragwürdigeren Gegend.
Neben der Couch war ein großes Fenster, von dem aus man in den Hinterhof hinuntersehen konnte. Neben den Mülltonnen standen drei Jungs um die zwanzig beisammen und schienen sich zu unterhalten. Wenn man sie lang genug beobachtete, stellte man fest, dass die eine oder andere illegale Substanz den Besitzer wechselte oder ein selbst gedrehter Glimmstängel von Hand zu Hand ging.
Milan konnte darüber nur voll Unverständnis den Kopf schütteln und wusste doch, dass es so sein musste und auch immer so sein würde.
Er wandte sich ab und ging an seinem riesigen Schreibtisch vorbei zur Tür, öffnete sie und trat auf den dunklen, engen Flur. Dann wandte er sich nach rechts und wollte sich gerade auf den Weg nach unten machen, als er auf dem oberen Treppenabsatz um ein Haar mit einem der Jungs zusammenrasselte.
Ihre Blicke kreuzten sich; dunkles Braun traf helles Blau. Nur für einen kurzen Moment hielt der Kontakt, der jedoch lang genug dauerte, um den Jungen aschfahl werden zu lassen. Milan kannte die Jungs nicht alle bei ihren Namen, aber der schmale Kerl mit dem schmutzig-blonden Haar vor ihm war ihm leider sehr bekannt.
»Milan … Ich …«, stammelte Kai, riss in einer Bewegung, die schon mehr als nur ein bisschen hektisch war, die Hand hoch zu seinem Kopf, um etwas zu verbergen, aber Milan hatte es trotzdem gesehen. Obwohl Kai Anstalten machte, sich wegzuducken, ließ Milan ihm diese Möglichkeit nicht, sondern packte ihn unnachgiebig am Handgelenk. Wortlos schleifte er ihn kurzerhand den Weg zurück, den er gerade gekommen war, den Flur hinauf in sein Büro. Kai wehrte sich, aber das konnte Milan kaum beeindrucken; er wog locker das Doppelte und überragte ihn um anderthalb Köpfe.
Schwungvoll riss Milan die Tür auf, die er nur wenige Augenblicke zuvor schon einmal geöffnet hatte, knallte sie hinter sich und Kai zu und schob Letzteren mit Nachdruck zur Couch.
Das Jammern und Klagen verhallte ungehört im Raum. Es würde dem Bengel nichts bringen und obwohl er das ziemlich sicher wusste, stellte er sich so an.
»Sei still«, wies Milan ihn knapp an, »wenn du dich nicht querstellst, ist es schneller vorbei.«

Kapitel 2: Jay

Frierend zog Jay seine neue Jacke enger um den schmalen Körper. Er war so verdammt froh um dieses Geschenk, das ihm sein bester Freund vor wenigen Tagen zu Weihnachten gemacht hatte. Seine Lieblingsjacke, die er schon seit Jahren getragen hatte, war ihm nämlich vor gar nicht so langer Zeit abhandengekommen. Die neue war (noch) nicht so bequem, wie seine alte es gewesen war, aber das würde sich mit der Zeit ergeben. Wichtig war, dass sie ihn wärmte und das tat sie zweifellos. Ohne sie wäre er in diesem Schneeregen noch elendig erfroren, während er darauf wartete, dass ihn jemand ansprach.
Erschöpft strich er sich die langen Strähnen aus dem Gesicht, die der Wind immer wieder aufs Neue durcheinanderbrachte.
Jay mochte die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr nicht besonders, wenn alles irgendwie in der Schwebe war, das alte Jahr noch nicht vorbei, aber das neue auch noch nicht da.
Noch weniger allerdings mochte er Silvester. Die falschen Vorsätze, die leeren Versprechungen fürs neue Jahr und nicht zuletzt wegen seines Jobs. Es war ihm die meiste Zeit des Jahres bestenfalls gleichgültig, schlimmstenfalls unangenehm, aber wenn die Männer ausgelassen und betrunken zu ihm kamen, dann hasste er es.
Dieses Jahr hatte er beschlossen, sich das nicht anzutun. Inzwischen war er auf dem Weg nach Hause. Eine kleine Wohnung in einem achtstöckigen Wohnblock, irgendwo zwischen Stadtzentrum und Industriegebiet. Nichts Besonderes zwar, aber es war seine Wohnung und darauf war Jay auch nach den fast vier Jahren, in denen er dort bereits wohnte, ziemlich stolz. Immerhin hatte es schon Zeiten in seinem Leben gegeben, in denen er allein von einem trockenen Schlafplatz bloß hatte träumen können.

Die letzten Stufen zu seinem Zuhause waren wie immer anstrengend, aber daran war er gewöhnt. Müde vom Tag stieß er die Tür auf, trat ein und streifte die neue Jacke von den Schultern.
»Jay? Hey, da bist du ja!«, wurde er begrüßt und hob überrascht den Kopf. Er hatte damit gerechnet, den Abend allein zu verbringen, aber nicht damit, dass er zu Hause seinen Freund antreffen würde. Bevor er das überhaupt richtig realisieren konnte, wurde er schon in starke Arme gezogen und an eine breite Brust gedrückt.
René roch vertraut nach seiner Zigarettenmarke und dem herben Aftershave, das er benutzte.
»Hey«, murmelte Jay gegen den dunklen T-Shirtstoff. Obwohl er selbst mit seinen etwa eins fünfundachtzig nicht gerade klein war, überragte René ihn noch um eine gute Handbreit und er liebte es, sich an ihn zu lehnen.
»Du kommst unerwartet früh«, murmelte René in Jays Haare und tupfte ihm einen Kuss auf den Kopf.
»Hmm«, machte der und schloss die Augen, »Silvester ist nicht mein Tag.«
»Versteh ich.« René nickte seufzend, aber Jay erfuhr nicht mehr, inwiefern er das verstehen konnte. Stattdessen spürte er Renés kräftige Finger, die fordernd unter den Bund seines T-Shirts schlüpften.
»René … Ich bin wirklich erledigt.« Er glaubte nicht wirklich, dass sein Freund sich davon würde aufhalten lassen, denn das tat er selten.
»Ich krieg dich viel zu selten zu Gesicht«, maulte er auch wie erwartet, aber ließ Jay tatsächlich los. Vielleicht hatte er in seiner Stimme gehört, wie fertig er tatsächlich war. Die letzten Tage hatten ihn einfach schrecklich geschlaucht.
»Ich mach dir einen Tee, okay?«, bot René an und verschwand in die Küche, ohne eine Antwort abzuwarten. Jay blinzelte erst überrascht, dann kräuselte ein warmes Lächeln seine Lippen. Irgendwo unter dieser harten Schale war wahrlich ein weicher Kern versteckt, obwohl er zugegebenermaßen auf den ersten Blick nicht wirklich so aussah: René war groß fast doppelt so breit wie Jay und wirkte auch durch die Tätowierungen an den Oberarmen und seine dunkle, raue Stimme zuweilen etwas bedrohlich. Er trug seine kastanienbraunen Haare millimeterkurz, was seine ohnehin schon kantigen Gesichtszüge noch betonte und die Tatsache, dass er qualmte wie ein Schlot, sah man seinen Zähnen leider an.
Aber das alles interessierte Jay nicht. Er liebte diesen Mann trotzdem und sah ihm auch seine Fehler, die er sicherlich hatte, gern nach. Schließlich war niemand perfekt und René bildete da natürlich keine Ausnahme. Er gab sich aber Mühe, wie die Tasse bewies, die er zehn Minuten später dampfend ins Wohnzimmer trug.
»Hier, bitte sehr.« René stellte das Porzellan auf dem alten Kacheltisch ab und setzte sich neben Jay auf die abwetzte Couch.
Jay warf seinem Freund einen dankbaren Blick zu, nippte an der Tasse und unterdrückte ein Grinsen. Der Tee war vollkommen überzogen, aber der Wille zählte schließlich.
»Viel zu tun heute?«, wollte René nach einer Weile der einträchtigen Stille wissen.
Jay zuckte zur Antwort die Schultern. »Nein, nicht wirklich.« Dazu war er schlicht zu früh nach Hause gegangen. Überhaupt wurde die Konkurrenz auf der Straße zunehmend stärker und er immer älter. Noch sah man ihm seine fast zweiundzwanzig Jahre nicht an, die Kombination von strahlend blauen Augen und blonden Haaren half zusätzlich etwas, aber wie lange das noch funktionieren würde, war fraglich. Die andern Jungs schienen mit jedem Jahr jünger zu werden und aufdringlicher als er waren sie außerdem.
Überhaupt arbeitete er viel lieber im Panther. Das war ein Club nahe der Altstadt, in dem er eigentlich als Bedienung und Barkeeper angestellt war, in dem er sich jedoch auch noch etwas für sich selbst dazuverdiente. Die Gäste dort waren normalerweise angenehmer als jene, die ihn auf der Straße ansprachen, und bezahlten ihm für die gleichen Dienste gut das Zwei- bis Dreifache. Konkurrenz gab es dort auch keine, denn die anderen beiden Bedienungen hatten vor Kurzem beschlossen, die Prostitution an den Nagel zu hängen.
Eigentlich sah der Besitzer des Clubs den Zuverdienst seiner Angestellten nicht gern, aber solange sie ihre eigentliche Arbeit nicht vernachlässigten, sagte er nichts dazu.
Warum er neben dem Panther trotz allem zusätzlich noch auf der Straße anschaffen ging?
Nun, Jay war durchaus bewusst, dass er ein Verfallsdatum hatte, dem er an jedem verdammten Tag näherkam, und er weder eine Ausbildung, noch einen Schulabschluss vorzuweisen hatte. Jeder verdiente Euro war ein Euro, der nicht mehr auf seinen und Renés Schultern lastete. Deswegen lastete, weil René hohe Schulden bei einem eher unangenehmen Zeitgenossen hatte. Umso schneller sie die Schulden also loswurden, umso besser für sie beide.
»Seit wann bist du zurück?«, fragte Jay und stellte die Tasse auf den Tisch. René war über Weihnachten bei seiner Familie gewesen, die jedoch von Jay nichts wusste, weswegen sie die Feiertage getrennt verbracht hatten. Eigentlich hatte René erst zum dritten Januar zurückkommen wollen.
»Seit heute Nachmittag. Der Freund meiner Mutter ging mir derbe auf den Sack und da die eh immer nur nickt und kuscht, hatte ich ziemlich schnell keinen Bock mehr. Ich denke, ich werde das in Zukunft auch bleiben lassen. Es ist vollkommen sinnlos und endet immer im Streit. Wenn meine Mutter meint, mich sehen zu wollen, soll sie herkommen. Ist schließlich nicht weit.«
René sagte es vollkommen gleichgültig, aber seine dunklen, schmalen Augen sprachen eine andere Sprache. Sie waren voll Schmerz. Jay sagte nichts dazu, sondern lehnte sich bloß stumm an ihn. René war nicht der Typ für große Gefühlsduselei, aber auch er war nicht aus Stein und die Sache mit seiner Mutter ging nicht spurlos an ihm vorbei. Er hatte Jay nicht viel erzählt. Nur, dass ihr neuer Freund ziemlich schnell handgreiflich wurde, aber seine Mutter ihn sogar noch verteidigte, wenn René sie darauf ansprach. Das tat sie angeblich, weil der Mann zumindest weniger gewalttätig war, als Renés Vater es gewesen war, aber Jay sah das anders. Wenn man einmal damit begonnen hatte, gewisse Dinge zu dulden, dann ging es immer weiter, dann hörte es nicht mehr auf. Deswegen hatte er selbst damals den Schlussstrich gezogen, hatte mit noch nicht einmal vierzehn entschieden, dass er lieber auf der Straße, als in einem solchen Umfeld leben wollte.
Eine Weile saßen sie einfach stumm da, bis René irgendwann seufzend aufstand. »Ich hab noch ein paar Päckchen zu verteilen«, scherzte er, gab Jay einen Kuss, der ihm für später mehr versprach und griff nach seiner Jacke.
»Sei vorsichtig …«, murmelte Jay leise, sodass sein Freund es nicht hören konnte. Schon war René auf den Flur verschwunden, aus dem kurz darauf das Geräusch der zufallenden Wohnungstür zu hören war.
Hoffentlich würde er wirklich vorsichtig sein, dachte Jay bei sich. Bisher hatte René sich nicht erwischen lassen, noch hatte er irgendwelche teure Ware verloren, aber es gab immer ein erstes Mal und davor graute es ihm mehr als nur ein bisschen. Vor allem vor Letzterem.
Seufzend trank Jay seinen Tee aus und erhob sich dann von dem fleckigen Sitzpolster. Ohne seinen Freund war die Wohnung plötzlich ziemlich leer. Was komisch war, wenn man bedachte, dass Jay ursprünglich erwartet hatte, so oder so allein zu sein. Nun aber fühlte er sich einsam. Früher hätte er sich möglicherweise mit Leo getroffen, jenem Freund, der ihm auch die Jacke geschenkt hatte, doch der war mit seinem neuen Freund vor zwei Tagen spontan weggefahren. Jay freute sich wirklich aufrichtig für ihn. Vor allem auch deswegen, weil er miterlebt hatte, wie Leo von seinem Ex nach Strich und Faden verarscht worden war und Julian, sein Neuer, es im Gegensatz dazu wirklich ehrlich mit ihm zu meinen schien. Aber ihm war auch klar, dass sein Leben von nun an wieder eine gute Ecke trister werden würde. Klar, er konnte Leo jederzeit erreichen und vermutlich würde der sogar vom anderen Ende der Welt aus zu ihm kommen, aber das könnte Jay nicht mit sich vereinbaren. Nicht, nachdem Leo nun endlich einmal »ankommen« durfte.
So entschied er sich dazu, duschen zu gehen. Noch immer war ihm nicht richtig warm. Das konnte heißes Wasser doch sicher richten?
Tatsächlich tat es wirklich gut, machte ihn außerdem etwas schläfrig und vertrieb die Kälte selbst aus seinen Zehen. Jay hätte ewig so dastehen können, aber leider reichte das heiße Wasser nicht so lange, weswegen er sich schnell abtrocknete und in ein T-Shirt und eine Hose schlüpfte, bevor ihm wieder kalt werden konnte. Danach trottete er in seine winzige Küche. Noch schnell was essen und dann … Hmm … Etwa schon schlafen gehen? War vielleicht nicht die schlechteste Idee, wenn man bedachte, wie müde er war. Ein Gähnen schlich sich seine Kehle hinauf und nahm ihm die Entscheidung ab.
Ja, Schlaf war gut.

Kapitel 3: Milan

Scharf sog Kai unter Milans Berührungen die Luft ein und zuckte zurück.
»Halt still«, schnarrte Milan, packte den schlanken Körper fester und hielt ihn in seinem starken Griff.
»Aua … Du tust mir weh«, wimmerte Kai und verzog wehleidig das schmale Gesicht.
»Recht so. Verdienst es nicht anders«, knurrte Milan, bevor er die Hand erneut bewegte und den jungen Körper darunter so noch lauter jammern ließ.
»Milan, bitte …« Nun flehte er auch noch. Innerlich rollte Milan mit den Augen, ließ sich aber nichts anmerken, sondern machte einfach weiter.
»Milan! Bitteee!« Tränen glitzerten in den blauen Augen, aber darauf wollte Milan keine Rücksicht nehmen.
»Wenn du jetzt nicht stillhältst, setzt’s was, Herrgott nochmal!« Allmählich platzte Milan der Kragen und noch einmal verstärkte er seinen Griff. Wer nicht hören wollte, musste eben fühlen! So war das und das musste auch dieser Bengel vor ihm irgendwann mal lernen. Wenn nicht auf die sanfte, dann eben auf die harte Tour.
Offensichtlich zeigte zumindest seine Drohung Wirkung, denn Kai schniefte nur noch erstickt und blieb unter Milans Händen nunmehr bewegungslos, starrte nur abwesend die gegenüberliegende Wand an. Wurde auch Zeit, dass das Gejammer ein Ende hatte!
Mit vor Konzentration tief gefurchter Stirn setzte Milan endlich den letzten Nadelstich, kontrollierte die Naht noch einmal und seufzte dann schwer. Wie Kai es immer fertig brachte, sich selbst so zu verletzen, war ihm ein großes Rätsel. Möglicherweise waren es auch die Freier, die ihn so zurichteten, aber das konnte er sich eigentlich nicht vorstellen. Zumindest nicht unter dem Dach des Hell’s Heaven. Okay, nein, das stimmte nicht so ganz, denn wer genug zählte, konnte hier fast alles bekommen. Aber zumindest war ihm von einem Glasscherben-Fetischisten in letzter Zeit nichts bekannt.
»Und du bist dir sicher, dass du selbst an dieser Verletzung schuld bist?«, fragte er noch einmal zweifelnd nach, während er Kais Kopf sanft am Kinn hin und her drehte, um die Wunde an der Augenbraue genauer zu studieren.
»Hab doch gesagt, dass ich in diesen blöden Glastisch gefallen bin«, nuschelte der Angesprochene, aber wich Milans Blick dabei auffällig aus. Überhaupt begannen bei diesem die Alarmglocken zu schrillen, denn das hatte Kai bisher ganz und gar nicht erwähnt! Seiner vorherigen Behauptung nach war er bloß draußen gestürzt und dabei mit dem Kopf ungünstig gelandet.
»Andrej hat dich reingeschmissen.«
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung und weil Kai daraufhin verstummend die Lippen aufeinanderpresste, hätte es nicht einmal dann einer Antwort bedurft, wenn es eine Frage gewesen wäre.
»Was hast du diesmal gemacht, um Zielscheibe seiner Wut zu werden?«, fragte Milan, strich dabei vorsichtig eine Wundsalbe auf die frische Naht, bevor er ein Pflaster darauf klebte.
»Nichts«, war die trotzige Antwort und diesmal rollte Milan wirklich die Augen. Vermutlich glaubte der Kleine sogar, was er da sagte, dachte er kopfschüttelnd, fragte aber nicht nochmal. Er hatte Kai schon oft einbläut, in Andrejs Nähe nichts Dummes zu tun – beispielsweise ihm zu widersprechen – und mindestens genauso oft hatte der sture Kerl auf diesen Rat einfach gepfiffen.
Selbst schuld. Mehr fiel Milan dazu nicht ein.
»Bin fertig, du kannst jetzt gehen«, teilte er Kai mit und stand selbst auf. Müde ließ Milan seinen Kopf kreisen, in seinem Nacken knackte es unheilvoll, dann packte er das Verbandszeug zusammen. Kai folgte der Aufforderung aufs Wort, schnappte sich noch seine Jacke, die Milan ihm zuvor ausgezogen hatte, und war schon verschwunden. Milan sah ihm stirnrunzelnd nach, denn dass Kai außerdem humpelte, war ihm keineswegs entgangen.
Seufzend ließ er sich auf seiner Couch nieder und massierte sich erschöpft die Nasenwurzel. Es gab Tage, da raubten ihm die Jungs – und hin und wieder auch die Mädels – den letzten Nerv. Kai hatte ein besonderes Talent dafür und das vor allem deswegen, weil er es immer wieder fertigbrachte, den Boss zu reizen. Nicht nur einmal war Milan bisher dazwischen gegangen, um Letzteren daran zu hindern, den Jungen wirklich zu verletzen. Schon seit Längerem sah Milan sich als Puffer zwischen den Strichern und seinem Bruder. Als »kleiner Bruder« konnte er sich Andrej gegenüber mehr erlauben durfte als andere. Er gab sich Mühe, die Wogen zu glätten, wenn es nötig wurde, aber viel zu oft gelang es ihm nicht. Dann war er derjenige, der die zerstörten Körper und Seelen irgendwie zu kitten versuchte.
Beiläufig sah Milan auf die Uhr und seufzte erneut. In wenigen Stunden würde das Hell’s Heaven seine Tore für den Abend öffnen und das bedeutete für ihn ebenfalls Arbeit. Die meiste Zeit sorgte er für Ordnung oder, wenn es nötig wurde, für Deeskalation.
Er hasste es.
Warum er es sich dennoch antat? Weil er viel zu oft das Gefühl hatte, der Einzige zu sein, der sich in irgendeiner Weise um die Jungs und Mädels scherte. Andrej dachte nur an seinen Profit und jene, die ihm diesen ins Haus trugen, dachten nur an ihr Vergnügen.
Auch Kai würde an diesem Abend wieder arbeiten, obwohl ihm von seinem »Sturz« vermutlich noch alles wehtat. Er musste, denn er hatte Schulden bei Andrej. Wie die meisten oder sogar alle, die sich für ihn verkauften.
Wer nichts hatte, kam zu Andrej. Andrej sorgte für jeden, gab Essen und Obdach gegen einen »kleinen Gefallen« oder eine kleine Miete. Selbst in seinem eigenen Kopf klang es für Milan zynisch, denn die »kleine Miete« genügte schon bald nicht mehr und wer nicht auf die Straße zurückwollte, musste mehr aufbringen. Solange, bis der Betrag, den Andrej pro Tag verlangte, eine horrende Höhe erreichte. Jede Wohnung wäre günstiger gewesen als der Betrag, den Andrej für seine »Fürsorge« sehen wollte, doch welcher normale Vermieter vergab seine Wohnungen gern an einen, in den meisten Fällen drogenabhängigen, Straßenstricher ohne richtige Papiere?
Richtig. Keiner.
Dazu kam die Gebühr, die Andrej für die Nutzung der Clubräume erhob. Keine Pflicht, nein, aber die einzige Alternative waren die Hinterhöfe oder die Autos der Freier. Besonders im Winter überlegten die meisten da nicht lange.
Und dann war da noch Andrejs ausgeklügeltes Belohnungs- und Bestrafungssystem. Ob es dahinter tatsächlich ein System gab, oder ob es reine Willkür war, wusste vermutlich nur Andrej selbst.
Warum dann niemand vor dem Abgrund warnte, der denen drohte, die sich auf ihn einließen?
Milan konnte es nicht sicher sagen. Er vermutete nur, dass ein Teil der Jungs und Mädels die eigene Situation nicht einmal annähernd realistisch einschätzte. Viele hielten an dem Bild des Retters fest, wohl auch, weil sie die Wahrheit nicht ertrugen. Ein paar kapierten irgendwann, was wirklich gespielt wurde, doch bei ihnen war die Angst vor Strafe zu groß, als dass sie es wagten, etwas zu sagen, denn dafür sorgte Andrej früh genug.
Zuletzt gab es dann noch die, die ihren Boss sogar unterstützten, die vielversprechende junge Körper ausspähten, abfingen und umgarnten und dafür in Andrejs Gunst gewaltig stiegen.
Milan verzog angewidert das Gesicht. Im Endeffekt dachte hier jeder, wie überall sonst auch, nur an sich selbst und seinen eigenen Vorteil.
Milan erhob sich wieder von seiner Couch, beschloss, noch etwas zu essen, bevor das Geschehen des Abends seine Aufmerksamkeit fordern würde. Nur kurz hielt er daher vor dem kleinen Spiegel inne und dachte, dass es bald Zeit wurde, seine Haare mal wieder schneiden zu lassen. Auch eine Rasur hatte er nötig, wie er fand. Die dunklen Stoppeln auf seinem kantigen Kinn und den markanten Wangen waren schon lange kein Dreitagebart mehr.

Gerade trat er aus seinem Büro, als er die tief vibrierende Stimme seines Bruders vernahm, die ihn rief. Irritiert darüber drehte Milan sich auf dem Absatz um und richtete den Blick auf die Treppe, von der aus er Andrej gehört zu haben glaubte.
Tatsächlich stand er dort, war mit seinen fast zwei Metern nur wenige Zentimeter davon entfernt, sich den Kopf an der Treppe über sich zu stoßen. Ein leichtes, kühles Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Sie hatten das gleiche markante Kinn, ähnlich hohe Wangenknochen. Allerdings gelte Andrej sein schwarzes Haar für gewöhnlich zurück und man erkannte, wenn man genau hinsah, eine kleine Narbe auf seiner rechten Wange. Außerdem kam man nicht umhin zu bemerken, dass seine Nase nicht mehr so gerade war, wie sie es einst gewesen war.
Wer die Brüder nicht gut kannte, neigte dazu, sie zu verwechseln, doch wer nur ein wenig Zeit mit ihnen verbrachte, dem passierte das nicht mehr. Dann wurden die ganzen kleinen Unterschiede so präsent, dass man sie nicht mehr übersehen konnte und nicht verstand, wie man dieselben Personen zuvor noch hatte verwechseln können.
Andrej begann er langsam zu sprechen – es klang ein wenig lauernd – und kam dabei gemächlich auf Milan zu.
»Gut, dass ich dich hier treffe. Du erinnerst dich an diesen schmierigen Dealer, mit dem wir uns letztens besprochen haben, vermute ich?« Andrej wartete, dass Milan nickte, bevor er weitersprach. Dabei zeigte er sein unheilvolles Lächeln, das niemals die Augen erreichte. »Er hat uns zu einer kleinen Party eingeladen. Vermutlich will er sich gut mit uns stellen, weil wir ihm gezeigt haben, dass wir auch anders können …«
Milan brummte etwas. Ja, daran konnte er sich noch sehr gut erinnern. Der Mann würde einen Teufel tun, mit seinen Raten und Aufträgen noch einmal in Verzug zu geraten.
»… und ich finde, du hast dir mal eine Auszeit verdient. Du kommst doch sicher mit?«
Milan schwieg. Partys mit seinem Bruder waren für ihn zumeist nur begrenzt spaßig. Vor allem deswegen, weil Milan es im Gegensatz zu Andrej vorzog, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht mit allerlei Substanzen abzuschießen, während leicht bekleidete Jungs – seltener Mädels – um ihn herumscharwenzelten. Trotzdem wusste er auch, dass die Frage eigentlich keine gewesen war. Er musste nicht mit, Andrej zwang ihn nicht oder so, dennoch sagte er den Satz, als wäre es bereits beschlossene Sache. Und das war es auch, denn Milan kam eigentlich immer mit.
Warum wusste er selbst nicht. Vielleicht, weil er insgeheim Sorge hatte, dass Andrej irgendwann einen nicht wieder gut zu machenden Fehler begehen würde, wenn er kein Auge auf ihn hatte.
»Ja, ich komme mit«, meinte er schließlich, bemerkte Andrejs zufriedenes Gesicht und wusste, dass er es vermutlich bereuen würde. Danach quetschte er sich eilig an ihm vorbei und die Treppe hinunter. Schließlich wollte er dem Abend nicht mit leerem Magen entgegensehen.

Kapitel 4: Jay

Jay wusste nicht so recht, warum er noch vor Mitternacht wieder erwachte. Vermutlich, weil sein Körper es nicht gewohnt war, so früh zu schlafen.
Zuerst war er vollkommen orientierungslos, tastete im Dunkeln verwirrt nach seiner Brille und nach seinem Handy, um die Uhrzeit zu checken. 23:37 Uhr verriet ihm das helle Display, gegen das er die noch vom Schlafen müden Augen zusammenkneifen musste.
Hey, da hatte er die ersten Minuten des neuen Jahres ja noch gar nicht verpasst, dachte er sarkastisch und stöhnte widerwillig in sein Kissen, weil es ihm so was von egal war. Da hätte er definitiv lieber tief und fest geschlafen. Trotzdem stand er auf und zog sich seine Hose über. Wach im Bett zu liegen, konnte er nämlich gar nicht ab und wenn er schon einmal wach war und im Gegensatz zu den letzten Jahren sogar Zeit dazu hatte, konnte er sich die bunte Knallerei auch genauso gut ansehen.
Vorsichtig tappte Jay aus dem Schlafzimmer. In der Wohnung war es noch immer still und dunkel, aber das war kaum verwunderlich. René war selten vor zwei oder drei Uhr zu Hause, wenn er »Päckchen verteilte«.
Leise schlich Jay in die Küche. Er mochte es nicht, der Verursacher von Geräuschen zu sein und so die Stille zu stören, die er einerseits genoss, andererseits fürchtete.
Fürchtete, weil in der Stille auch immer die Schatten lauerten und die Erinnerungen, die ihm an manchen Tagen bedrohlich an den Fersen klebten und ihm noch immer Unbehagen verursachten. Genoss, weil er selten vollkommen zur Ruhe kam und er diese Momente ausnutzen wollte. Auf dem Heimweg von der Auenstraße – die Gegend im Industriegebiet, wo er meistens stand – oder vom Panther gelang es ihm beispielsweise. Dann horchte er einfach hinein in die Stille, nahm nur noch seinen eigenen Herzschlag wahr, machte sich bewusst, dass er nach der ganzen Scheiße, die er schon durch hatte, noch immer am Leben war und es ihm gut ging.
Das war weiß Gott nicht immer so gewesen. Es hatte schließlich gute Gründe dafür gegeben, dass er damals das Leben auf der Straße seinem alten Leben vorgezogen hatte. An seine Eltern konnte er sich kaum erinnern, aber das war wohl auch gut so. Was er noch wusste, war, dass seine Mutter mit ihm und seinen Geschwistern vollkommen überfordert gewesen war und dass der Vater seiner beiden jüngsten Geschwister ihn nicht nur einmal übel zusammengeschlagen hatte. Nach einem Oberschenkel- und mehreren Rippenbrüchen hatte er dann endgültig die Nase voll gehabt.
Es hatte sich ohnehin nie jemand für ihn interessiert. Weder seine »Eltern«, noch die Lehrer der Schule, zu der er nur unregelmäßig gegangen war, und das Jugendamt schon gar nicht. Also hatte er auch ebenso gut das Feld räumen können. Vermisst hatte ihn ziemlich sicher niemand, aber zumindest war er ab diesem Moment frei gewesen.
Jedenfalls so frei, wie man als Teenager sein konnte, der auf sich allein gestellt war. Es waren richtig beschissene Zeiten gewesen und es hatte Momente gegeben, in denen Jay bereut hatte, abgehauen zu sein. Irgendwann hatte er herausgefunden, dass es Männer gab, die auf sein unschuldiges Äußeres abfuhren und so war er zu seinem ersten bezahlten Fick gekommen.
Mit vierzehn.
Inzwischen war er leider nicht mehr ganz so süß wie damals und es fiel ihm zunehmend schwerer, in der Auenstraße Kunden zu finden. Andrejs Stricher machten es teilweise für Preise, für die er sich am liebsten nicht einmal anfassen lassen wollte, aber wenn er nicht mitzog, stand er bald neben der Spur. Und dennoch konnte er zurzeit völlig wahrheitsgemäß sagen, dass es ihm noch nie so gut gegangen war, und jedes Wort ehrlich meinen.
Seit Sean, Barkeeper, stellvertretender Geschäftsführer des Panthers und Lebensgefährte des Chefs, ihn vor vier Jahren auf der Auenstraße scheinbar zufällig aufgesammelt hatte, war es mit seinem Leben steil bergauf gegangen. Sean hatte ihn nicht nur von der Straße geholt und ihm die Stelle im Panther verschafft, er hatte ihm darüber hinaus auch bei der Wohnungssuche geholfen und ihm bei so manchem zur Seite gestanden.
Jay hatte sich mit seinem Kollegen Leo angefreundet, später auch mit dem anderen, Janna, und irgendwann war René in sein Leben getreten. Am liebsten wollte er das Jetzt, das Gegenwärtige einfrieren und für immer bewahren, denn seine Glückssträhne dauerte nun schon so lange an, dass er es fast selbst nicht mehr glauben konnte.
Mit einem leichten Lächeln, aber auch einer kleinen Sorgenfalte die Zukunft betreffend auf der Stirn, öffnete Jay den Kühlschrank und fand darin ein paar Flaschen von Renés Bier; die waren ja fast so gut wie Sekt oder nicht?
Andererseits … Draußen würde es kalt sein. Lieber doch noch einen Tee.
Ja, damit ließ sich sicher auch aufs neue Jahr anstoßen … mit … ihm selbst. Das mochte anderen trostlos erscheinen, aber Jay hatte unbestreitbar schon schlimmere Silvester verbracht und so freute er sich bloß auf die Ruhe, die ihn auf seinem Balkon in ihre Arme nehmen würde, bis um Mitternacht dann das Feuerwerk den Himmel bunt färben würde.
Es war tatsächlich ziemlich kalt auf dem Balkon, so sehr, dass sein Atem kleine Wölkchen bildete, aber das störte Jay nicht besonders. Er setzte sich mit einer Wolldecke auf die Stufe, die von der Balkontür nach draußen führte, und lehnte den Kopf gegen das Holz des Rahmens.
Die Stadt lag ruhig und friedlich da. Nichts deutete darauf hin, dass gerade zehntausende Menschen darauf warteten, den Countdown fürs neue Jahr herunterzuzählen.
Abwesend kramte Jay in seiner Hosentasche nach einer Zigarette, schob sie sich zwischen die Lippen und entzündete sie mit einer geübten Bewegung. Tief inhalierte er den Rauch, bevor er den Kopf in den Nacken legte und den silbrigen Dunst Richtung Sterne blies.
Der Himmel war fast klar über ihm, was ihn zwar frösteln ließ, aber zugleich auch wunderschön aussah. Der Mond war nicht zu sehen, vermutlich war gerade Neumond oder so, aber die Sterne glitzerten am Firmament.
Zum Glück saß er hier und genoss seine Zigarette und seinen Tee, statt sich in den dunklen Nebenstraßen des Industriegebiets den Arsch abzufrieren, dachte er, während er vorsichtig an seiner Tasse nippte, sich beinahe die Zunge verbrannte und verhalten fluchte. Der flüchtige Blick auf sein Handy verriet ihm, dass das alte Jahr nur noch wenige Minuten über hatte. Irgendwo zündete schon jemand eine Rakete. Das Pfeifen klang weit entfernt und Jay konnte auch nirgends das Ergebnis des Knalls am Himmel finden. Jedes Jahr gab es immer ein paar, die zu ungeduldig oder vielleicht auch zu blöd waren, bis Mitternacht zu warten.
Versunken in den Sternenhimmel und in die Lichter der Stadt, bekam er kaum noch etwas um sich herum mit. Ja, in dieser Nacht genoss er die Stille!
Als sich jedoch plötzlich eine starke Hand in seine Schulter grub, fuhr er vor Schreck so sehr zusammen, dass ihm die Tasse aus der Hand glitt, auf dem Boden zersprang und der Tee sich auf die Fliesen des Balkons ergoss. Alarmiert drehte er sich herum, bereit, wen auch immer niederzuschlagen, als er den frech funkelnden Augen seines Freundes begegnete.
»René!«, schrie Jay ihn an, der Schreck saß ihm noch immer tief in den Knochen und sein Blut rauschte ihm in den Ohren. Wie kam dieser … dieser … – Ihm fiel nicht mal ein Wort ein – auf die Idee ihn so zu erschrecken?
»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, du sollst mich nicht so zu Tode erschrecken!«
»Tschuldige«, nuschelte René schuldbewusst, ignorierte jeden weiteren Protest und gab Jay einen Kuss auf den Kopf, bevor er sich einfach neben ihn setzte. »Ich dachte nur, du magst Silvester vielleicht nicht allein verbringen, wo du schon mal zu Hause bist.«
»Oh …« Sofort verflog Jays Ärger und er rückte sogar noch ein Stück, damit René sich nicht so quetschen musste. Das … das war irgendwie süß von ihm. »Du hättest mich trotzdem nicht so erschrecken müssen«, schob er dennoch hinterher.
»Ich wollte dich eigentlich nur überraschen. Dass du dich so erschreckst, wollte ich nicht.« René legte entschuldigend seinen Arm um Jay, der sich sofort anschmiegte. Ja, es war auf jeden Fall schöner, nicht allein dort zu sitzen, sondern mit René zusammen in den Himmel zu schauen. Er gab ein wohliges Geräusch von sich und schloss entspannt die Augen.
»Musst du denn dann nachher nochmal weg?«, fragte Jay leise, spürte, wie ihm die Müdigkeit plötzlich wieder in die Glieder kroch, als habe sie nur auf seinen Freund gewartet.
»Nein, ich wollte heute bei dir sein. Wo ich Weihnachten schon nicht da war … Oh, schau, es geht los!«
Er hatte recht. Fast zur gleichen Zeit starteten aus den Häuserschluchten die Raketen, zischten hoch in die Luft und sprühten ihren bunten Regen in die Nacht.
»Frohes neues Jahr, Jay-Schatz«, flüsterte René leise, drehte mit den Fingern sanft dessen Kinn zu sich und verschloss ihre Lippen.
»Dir auch, René«, hauchte Jay in den Kuss und erwiderte ihn liebevoll. Sofort vertiefte René die Liebkosung, vergrub seine Finger in Jays langen Haaren und zog ihn verlangend näher zu sich.
»Ich liebe dich, Jay.«
»Ich dich auch.«


Na, neugierig geworden? 🙂